Die Vaterstädtische Stiftung im Nationalsozialismus
Mit der sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten trat der schwelende Antisemitismus offen zutage und wurde zum manifesten Bestandteil der neuen Politik. Nach und nach wurde diese Staatsdoktrin auf dem Rechtsweg in alle Lebensbereiche übertragen, womit das Leben der Juden in wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und rechtlicher Hinsicht immer stärker eingeengt wurde, begleitet von immer deutlicherer Diffamierung und Ausgrenzung auch im persönlichen Erfahrungsbereich der Menschen.
Frühzeitig fiel das Augenmerk der neuen Machthaber auf jüdische wohltätige Institutionen und sollte mit seiner Verquickung von materieller Habgier und antisemitischer Diskriminierung diese in einen Strudel ziehen. In Hamburg gehörten dazu auch 13 Wohnstifte, die ausschließlich für Juden bestimmt waren. Hier war eine Klassifizierung nach nationalsozialistischen Kriterien eindeutig und antijüdische Maßnahmen schnell umsetzbar.
Anders war die Lage bei den paritätischen Wohnstiften, die zwar von Juden begründet worden waren, jedoch allen Bewerbern, gleich welcher Konfession, offenstanden. In dieser Gruppe war die Vaterstädtische Stiftung vom Jahre 1876 die größte.
Im März 1935 beschloß der Vorstand den Namen zu verkürzen und künftig unter der Bezeichnung Vaterstädtische Stiftung tätig zu sein, da die lange Version zu umständlich sei, aber auch, weil das eigentliche Gründungsjahr 1849 war.
Im gleichen Jahr wurden erstmals bestimmte Inhalte der Satzung von staatlicher Seite kritisiert, die sich auf die finanzielle Absicherung der Stiftung als Intitution wie auf die der Bewohner bezog. Bezeichnend war weiter die später im Jahr erfolgte Bemängelung der Inschrift im Stift am Eichholz, da im September mit dem Erlaß der Nürnberger Gesetze die Rassenidiologie manifest geworden war und nach und nach per Gesetz in alle Lebenslagen übertragen wurde.
Auszug aus dem Reichsbürgergesetz vom 15.September 1935:
§ 1- Staatsbürger ist, wer dem Schutzbund des Deutschen Reiches angehört und ihm dafür besonders verpflichtet ist.
- Die Staatsangehörigkeit wird nach den Vorschriften des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetztes erworben.
§ 2- Reichsbürger ist nur der Staatsangehörige, deutschen oder artverwandten Blutes, der durch sein Verhalten beweist, dass er gewillt und geeignet ist, in Treue dem deutschen Volk und Reich zu dienen.
- Das Reichbürgerrecht wird durch Verleihung des Reichsbürgerbriefes erworben.
- Der Reichsbürger ist der alleinige Träger der vollen politischen Rechte nach Maßgabe der Gesetze.
Damit war die Verfolgung der Juden auf eine neue Ebene gestellt und trotz aller weiterhin unentschiedenen Fragen, ihre offene Ausgrenzung und Diffamierung gesetzlich fundamentiert.
An der paritätischen Tradition festhaltend stiftete der Vorstand je 100 Mark für die jüdische und für die allgemeine Winterhilfe. Auch wurde zunächst das angeordnete Hissen der Reichsflagge an den Stiften umgangen, letztlich waren jedoch alle Versuche eines Widerstandes zum Scheitern verurteilt.
Runderlaß des Preußischen Ministers der Finanzen und des Reichsministers der Justiz vom 11.6.1937
Die jüdischen milden Stiftungen haben mit dem 3.12.1936 ihre Bevorzugung hinsichtlich der Gebührenfreiheit verloren; das bezieht sich auch auf Gerichtskosten
Als mit der Neuverordnung der Steuergesetze die Rassenkriterien auch im Stiftungswesen angewandt wurden, gerieten auch die paritätischen Stiftungen in existenzielle Nöte, wie es bei den jüdischen Stiften bereits eingetreten war.
Dank des Verhandlungsgeschicks und der juristischen Fähigkeiten des Vorstandmitglieds Dr. Richard Robinow konnte zunächst ein Aufschub bei der drohenden erdrückenden Besteuerung erwirkt werden.
Robinow entstammte einer angesehenen jüdischen Kaufmannsfamilie und war seit vielen Jahren Vorstandsmitglied der Vaterstädtischen Stiftung. Er hatte sich als Anwalt und mit vielen weiteren Tätigkeiten in juritischen Fachkreisen einen ausgezeichneten Ruf erworben und sollte bis zu seiner Emigration im Sommer 1939 nach London die juristischen Verhandlungen mit den Behörden führen. Er wurde auch zum Ansprechpartner anderer paritätischen Stiftungen.
Seit 1938 jedoch zogen sich die Klammern immer enger um diese Einrichtungen. Auf Erlaß des Reichswirtschaftsministers musste zunächst mit detaillierten Fragebögen die finanzielle wie personelle Situation erfasst werden. Das folgenschwere Ergebnis war, dass auch diese Stiftungen nunmehr als jüdisch eingestuft wurden, mit allen weitreichenden negativen Folgen.
Eine Konsequenz war der Austritt der 4 jüdischen Vorstandsmitglieder im Oktober des Jahre 1938. Dr. Richard Robinow, Dr. Paul Wohlwill, Carl Solmitz und Fräulein Dora Magnus legten nach jahrzehntelanger Mitarbeit ihre Ämter nieder, um die Stiftung nicht zu gefährden.
Zur gleichen Zeir mussten auch die Juden unter den Bewohnern ermittelt werden und es zeigt sich, dass sich unter den 600 lediglich 17 befanden. Diese mussten umgehend in das Martin-Brunn-Stift ziehen, das aus der Vaterstädtischen Stiftung ausgegliedert worden war. Damit war die rassenidiologisch bedingte Trennung der Nichtjuden und Juden in dieser Stiftung wie auch in anderen vollzogen.
Als dann die Staatsverwaltung im Februar 1939 eine Umformulierung aller Satzungen von Stiftungen anordnete wurde diese Separation festgeschrieben und die Einflußnahme in ehemals eigenständige Institutionen zementiert.
§ 1
Zweck der Stiftung ist, älteren, würdigen, bedürftigen Deutschen Volksgenossen, wenn sie mindestens fünf Jahre in der Hansestadt Hamburg wohnen, kleine Wohnungen gegen eine geringe Vergütung zu gewähren ...
§ 4
Die Verwaltung der Stiftung wird durch den Vorstand geführt. Der Vorstand, dem Juden nicht angehören dürfen, besteht aus mindestens acht Personen ...
Damit war der eigentliche Grundgedanke der Gründer auf den Kopf gestellt worden.
Nach dem Novemberpogrom 1938 verschärfte sich für alle Juden die Lage im Wohnungswesen drastisch mit dem langfristigen Ziel, sie aus ihren Wohnungen und Häuser zu vertreiben, ihren Besitz zu rauben und die Menschen in bestimmten Häusern zusammenzufassen.
Die paritätischen Wohnstifte mussten auf Weisung der Sozialbehörde "arisiert" werden und nur dem Verhandlungsgeschick Dr. Paul Wohlwills ist es zu verdanken, dass zur Milderung der absehbaren Wohnungsnot der Juden zwei weitere Stifte neben dem Martin-Brunn-Stift für Juden bestimmt wurden.
Dr. Wohlwill war 1908 nach dem Tod seines Vaters Theodor in den Vorstand der Stiftung gewählt worden und stellte seine herausragenden juristischen Fähigkeiten und sein tief verwurzeltes soziales Engagement gerade in diesen schwierigen Zeiten unter Beweis. Er selbst war zwar durch seine sogenannte "Mischehe" von den härtesten Maßnahmen der antijüdischen Verfolgungsmaschinerie geschützt, musste gleichwohl sein Amt als Richter niederlegen, wie auch die Vorstandsposten in anderen wohltätigen Einrichtungen. Er wurde der Verantwortliche der verbliebenen jüdischen Stiftungen und führte die Verhandlungen mit der Gestapo und den übrigen NS-Instanzen einerseits und dem Jüdischen Religionsverband andererseits.
Neben dem Martin-Brunn-Stift wurden das John-R.-Warburg-Stift, dessen Vorstand Dr. Wohlwill ebenfalls angehörte, und das Mendelson-Israel-Stift im Kurzen Kamp für Juden bestimmt.
Letzteres war aus der Zusammenführung zweier Testamente mit gleicher Bestimmung im Jahre 1931 errichtet worden. Der jüdische Kaufmann Theodor Mendelson hatte ebenso wie das Ehepaar Dr. Philipp Israel und Henriette Israel, geb. Masson bereits längere Zeit zuvor eine großzügig finanzierte Stiftung zur Errichtung von Freiwohnungen testamentarisch verfügt. Aufgrund zeitbedingter Umstände wurde schließlich ein Stift mit 25 kleinen Einzelwohnungen in Fuhlsbüttel gebaut, in das ältere Frauen aufgenommen wurden, gleich welcher Konfession.
Diese genannten drei Stifte, wie auch die übrigen 13 jüdischen, gehörten zu den 80 sogenannten "Judenhäusern", in die bis auf bestimmte Ausnahmen alle in Hamburg lebenden Juden ziehen mussten, unter ersatzloser Aufgabe ihres Wohnraumes, ihres Besitzes und ihres Vermögens. Alle Wohnungen in diesen "Judenhäusern" und damit auch die kleinen in den ehemaligen Stiften waren doppelt und dreifach belegt.
Die Menschen besaßen bei Einzug in diese Wohnungen nur noch einen Rest ihres privaten Besitzes und mussten jetzt in drangvoller Enge hausen, was eine zusätzliche Belastung zu allen ürigen Schikanen darstellte. Nachdem ihre Verdrängung und Beraubung im Wirtschafts- und Berufsleben abgeschlossen war, war somit der Wohnraum zum Ziel der staatlichen Raubzugspolitik gegenüber den Juden geworden.
Die sogenannten "Judenhäuser" waren ein maßgeblicher Bestandteil im Kontroll- und Erfassungsinstrumentarium der NS-Behörden und der Gestapo, deren schreckliche eigentliche Bedeutung sich seit dem 25. Oktober 1941 zeigte, als mit der ersten Deportation aus Hamburg auch aus den Stiften Menschen in die Ghettos und Vernichtungslager transportiert wurden.
Aufgrund gesetzlicher Anordnungen und Erlasse mussten spätestens bis April 1942 fast alle jüdischen Bewohner der Stadt in diese, dem Jüdischen Religionsverband gehörenden Häuser einziehen. Dieser Verband, ein Zusammenschluß der ehemaligen jüdischen Gemeinden Hamburgs, musste die staatlichen Anweisungen gegenüber den Juden umsetzen.
Bekanntmachung Nr. 21
Wir fordern hiermit alle Juden (außer Misch-Ehen), die noch nicht einem vom Jüdischen Religionsverband Hamburg e.V. bewirtschafteten Grundstück wohnen oder bereits in ein solches Grundstück eingewiesen worden sind, auf, sich umgehend im Büro des Jüdischen Religionsverbandes e.V., Beneckestr. 2, Zimmer 18 zu melden.
Jüdischer Religionsverband Hamburg e.V.
Dr. Max Israel Plaut
Hamburg, den 24. März 1942
Im Juli des Jahres gingen dann die großen Deportationszüge nach Auschwitz und Theresienstadt ab, mit denen auch die drei ehemals paritätischen Wohnstifte ihrer Bewohner beraubt wurden.
Aus dem John-R.-Warburg-Stift wurden insgesamt ca. 180 Menschen, aus dem Martin-Brunn-Stift ca. 145 und aus dem Mendelson-Israel-Stift ca. 40 Menschen deportiert. Keiner hat die Konzentrationslager überlebt. Insgesamt fielen wahrscheinlich annähernd 10.000 Juden aus Hamburg dem Terrorregime zum Opfer.
Der zurückgelassene Besitz der deportierten Menschen wurde versteigert und dann die Stiftungen in die Vaterstädtischen Stiftung integriert. Im Verlauf des Krieges wies das Wohnungspflegeamt viele weitere Ausgebomte in die ehemaligen Stiftswohnungen ein, die dort lange wohnen blieben.
Bei Kriegsende zeigte sich, dass bis auf drei zerstörte Gebäude die übrigen mit reparierbaren Bombenschäden den Krieg überstanden hatten. Nicht mehr zu ersetzen waren die Verluste der dem Terrorregime zum Opfer gefallenen Menschen jüdischer Herkunft.
Autorin: Dr. Angela Schwarz
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